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Selbstverletzendes Verhalten-SVV
Arten von SVV:
*das Aufschneiden, Aufkratzen oder Aufritzen (sog. Ritzen) der Haut an den Armen und Beinen mit spitzen Gegenständen wie Rasierklingen, Messern, Scheren oder Scherben; eine Häufung der Narben ist am nicht-dominanten (Unter-)Arm zu finden, aber auch beide Arme können von Narben übersät sein, wie auch z. B. Bauch, Beine, Brust, Genitalien oder das Gesicht.
*wiederholtes „Kopfschlagen” (entweder mit den eigenen Händen gegen den Kopf, ins Gesicht oder mit dem Kopf an Gegenstände)
*das Ausreißen von Kopfhaaren, Augenbrauen, Wimpern usw. (Trichotillomanie)
*In-die-Augen-Bohren
*Mit Nadeln (Sicherheitsnadeln etc.) stechen
*Das Beißen in erreichbare Körperpartien, auch Abbeißen von Fingerkuppen und „Zerkauen” der Innenseite von Wangen oder Lippen
*Verbrühungen mittels heißem Wasser/Verbrennungen mit Zigaretten (Zigarettenausdrücken auf Armen und Beinen, Verbrennen mit Bügeleisen, Hand über eine Kerze halten)
*Äußerliche Verätzung des Körpers mit Chemikalien (z. B. Salzsäure, Schwefelsäure u.a.) Mutmaßlich werden Nägelkauen, Nagelverletzung und Ausreißen der Nägel von verschiedenen Quellen als SVV/AAV angesehen.
* Intravenöse, subkutane oder intramuskuläre Injektion von verschiedenen Mitteln (z. B. Lauge, Säure oder Spülmittel)
"Es ist wichtig zu verstehen, dass die verschieden Formen von Selbstverletzung nicht ein Teil von Gruppenritualen oder modischen Verhaltensweisen unter Jugendlichen sind. Vielmehr stellen sie eine individuelle Psychopathologie dar: eine psychische Krankheit.
Eine Person, die sich selbst verletzt, befindet sich meist in einem Trancezustand und sucht den Schmerz und das Blut. Sie denkt kaum darüber nach, wie ihre Haut später aussehen wird. Ein Mädchen, dass sich selbst verletzt, handelt nicht nach den Normen einer bestimmten Gruppe: Sie plant ihr Vorgehen nicht, sondern ist überwältigt von dem Zwang, so handeln zu müssen, und folgt dabei keiner bewussten Absicht. Sie sucht bei ihrer Selbstverletzung den körperlichen Schmerz, der den noch schmerzlicheren seelischen Zustand übertüncht.
Es schein paradox, mit Hilfe stärkerer Schmerzen Erleichterung von Schmerz zu suchen, paradox, den Anblick des eigenen Blutes als Erleichterung zu empfinden. Und doch ist das genau der Mechanismus, mit dem die Person, in deren Welt es nur um die Wahl zwischen der einen oder anderen Art von Schmerz gibt, Abhilfe sucht.
Es gibt viele Erklärungen dafür, das ein Mensch so sonderbare und eng beschränkte Wege einschlägt. Sie alle verweisen jedoch auf Lebensumstände, die sich von den meisten gesunden Kindheitserfahrungen, Gefühlen und Entwicklungen radikal unterscheiden.
Wenn wir Glück haben, sind unsere früheren Erfahrungen angenehm, und wir sind unterstützt sowie freundlich und liebevoll behandelt worden. Im ungünstigsten Falle jedoch hat man uns vernachlässigt, ist gefühllos mit uns umgegangen, hat uns bestraft oder missbraucht. Als Kinder sind wir nicht imstande, die Erwachsenen und ihr Verhalten uns gegenüber zu beurteilen. Wir kämen niemals auf die Idee, dass enge Bezugspersonen oder andere Fehler machen könnten. Würden sie etwas falsch machen, dann müssten wir daraus den Schluss ziehen, dass unsere sie inkompetent sind und uns alleine lassen. Die Angst vor dem Verlassenwerden ist die größte Angst eines Kindes. Sie geht noch weit über die Angst vor dem Tod hinaus, die für ein Kind im besten falle etwas sehr abstraktes ist.
Wenn das kleine Kind älter wird, braucht es den Schutz der Eltern immer weniger. Der oder die Jugendliche muss den Schmerz der ersten Lebensjahre nun selbst wiederherstellen, den Schmerz, der für die Person gleichbedeutend ist mit Zuhause, Sicherheit, Wohlgefühl.
Das ist ein Beispiel für die pathologische Verzerrung des Über- Ichs oder Bewusstseins. Das Kind ist zu einem jungen Menschen herangewachsen, dessen Assoziationen und Bedeutungen in Bezug auf alles, was in der Welt passiert, durch seine frühesten Erinnerungen verzerrt worden sind. Auch wenn die meisten von uns diese Art des Denkens nur als verkehrt oder verwirrt begreifen können, ist sie tatsächlich auf tragische Weise das durch und durch logische Ergebnis der Kindheit dieses Menschen.
Die beste Möglichkeit zu verstehen, warum jemand sich selbst verletzen will, besteht darin, den Menschen zuzuhören, die an dieser Störung leiden.
Selbstverletzung ist vielleicht das absonderlichste und paradoxeste Beispiel, bei dem die betroffene Person versucht, mithilfe von Schmerz quälenden Gefühlen zu entkommen und Sicherheit und Geborgenheit zu empfinden. Eine Person, die sich selbst verletzt, reagiert sehr sensibel auf ihren emotionalen Schmerz, ja, mehr noch, sie verzweifelt an der
Vertrauenswürdigkeit der anderen. Sie zieht es vor, selbst die Kontrolle über ihren Schmerz und das Gefühl von Betäubung auszuüben, dass er ihr vermittelt.
Wie viel Entschlossenheit brauchen wir, um uns so tief in die Haut zu schneiden, dass es blutet? Die Nerven der haut senden Schmerzsignale ans Gehirn, um uns vor der Gefahr einer drohenden Verletzung zu warnen. Im Falle einer selbst verursachten Verwundung fungiert dieser Schmerz als körpereigener Abwehrmechanismus, um uns davon abzuhalten, weiter auf eine körperliche Verletzung hinzuarbeiten. Wenn jemand trotz dieser Schmerzen weitermacht, bedeutet das, dass er durch etwas Stärkeres motiviert ist, als durch den Schmerz, etwas, das ihn in die Lage versetzt, diesen zu ignorieren oder zu ertragen. Um Schmerzen zu ignorieren sind intensive Gefühle erforderlich. Wenn etwas größere Priorität hat, ist es uns möglich, Unwohlsein und Gefahr zu ignorieren. Welche Priorität leitet die Person, die sich selbst verstümmelt oder schneidet, sodass sie die körpereigene Abwehr umgehen und den schmerz ignorieren kann? Was bewirkt dieses Umschalten im Gehirn und versetzt sie in die Lage, sich ohne jede Notwendigkeit oder dringende Priorität mit einem Küchenmesser selbst in die Haut zu schneiden?
Für die Person, die sich selbst verletzt, ist das Hervorrufen von Schmerz oder Blut das Ziel an sich. Sie muss ihre eigenen inneren emotionalen Notwendigkeiten, Dringlichkeiten und Gefahren erleben, die für sie intensiv und real sind.
Worin besteht dieses Ziel? Durch ihr handeln löst sie kein Problem für sich oder andere Menschen, also muss sie nach unserem Verständnis auf innere Gefühle reagieren. Indem sie sich körperlich verletzt, verschafft sie sich symptomatisch Abhilfe für vorhandenen Kummer oder Schmerz. Es mag uns grotesk vorkommen, den einen Schmerz mit einem anderen zu behandeln, aber genau das tut diese Person; das ist ihr Ziel.
Die Möglichkeit, die sie ausschließt, und die den meisten von uns sehr viel vertrauter erscheint, würde darin bestehen, den Schmerz in Worte zu fassen, so dass er Ausdruck findet, mitgeteilt und untersucht werden kann. Wenn wir uns einer Ungerechtigkeit auf diesem Wege stellen, wird de Spannung, die innerlich entstanden ist, meistens abgebaut. So entwickeln wir Verständnis. Bei der symptomatischen oder Ersatzmethode lässt die Person, die sich selbst verletzt, das Gefühl der Verletztheit nie wirklich hinter sich, sondern sorgt lediglich für eine kurzfristige Erleichterung. Somit führt dieser Weg nicht nur zu einem Stau von negativen Gefühlen, sondern auch zu einer Sucht nach der Methode selbst und der kurzfristigen Erleichterung, die sie verschafft.
Die sich selbst verletzende Person zieht sich innerlich immer mehr zurück, kehrt sich ab von anderen Menschen und gibt jede reale emotionale Verbindung auf. Dieser "Rückzug nach innen" reduziert unweigerlich das Gefühl von Beziehung zu anderen oder einer zwischenmenschlichen Realität überhaupt und führt dazu, dass das präzise Realitätsempfinden allmählich abnimmt. Das bezeichnen wir als Psychopathologie oder psychische Krankheit.
Die Person, die sich selbst verletzt, schämt sich ihrer seelischen Schmerzen und hat keine Sprache, um sie anderen beschreiben zu können.
Wie immer sie auch dorthin gelangen: Sich selbst verletzende Menschen haben festgestellt, dass körperlicher Schmerz bei emotionalem Schmerz Abhilfe schaffen kann. Sie haben aus welchem Grund auch immer, keine Möglichkeit den Ausdrucks für ihren emotionalen Schmerz und können sich deswegen nicht davon befreien. Alles, was ihnen zur Verfügung steht, ist diese kurze Zeitspanne, in welcher der emotionale Schmerz vorübergehend von körperlichem Schmerz übertroffen wird, so dass sie ihn mit diesem übertünchen können. Wenn eine Person sich körperlich mit einem Instrument attackiert, das die Haut verletzt, oder oft auch noch schlimmeres anrichtet, dann bedeutet das, dass sie sich hilflos fühlt, und keine andere Möglichkeit sieht, mit den seelischen Qualen und dem Chaos umzugehen, die aus Gefühlen geboren werden, welche sie nicht bewältigen kann. Das geht weit über Frustration hinaus. Selbstverletzenden Verhalten bedeutet, dass das Denken sich aus seinem gewöhnlichen Rahmen, oder sich von seiner üblichen Perspektive gelöst und die Unzweckmäßigkeit von Schmerz und Gefahr aus den Augen verloren hat, damit die Person mit ihrem Handeln sofortige Abhilfe für ihren emotionalen Schmerz schaffen kann."
Textauszug aus dem Buch "Der Schmerz sitzt tiefer"
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